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Muslime in der Zentralschweiz

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Integration und religiöse Identität der Muslimen in der Schweiz

Posted by Die Gemeinschaft - 10. Dezember, 2007

hho_5204_behloul100x0.jpg Interview mit Dr. Samuel Behloul, Universität Luzern. Dr. Samuel Behloul ist Assistent am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Islam in der Geschichte, Diaspora- und Migrationsforschung mit besonderer Fokussierung auf Islam und Muslimen in der Schweiz.

Im folgenden Interview mit DG erzählt Dr. Behloul über das sehr aktuelle Thema der Integration und der religiösen Identität von Muslimen in der Schweiz:

DG: Im Rahmen Ihrer Forschung hier an der Universität Luzern haben Sie die Angelegenheit der religiösen Identität und ihren Einfluss auf der Integration in der breiteren Gesellschaft erforscht. Diese ist sicher eine interessante Perspektive, denn es scheint für viele Menschen ein Hindernis zur Integration, seine religiöse Identität zu beteuern. Was hat Ihre Forschung in dieser Hinsicht ergeben? Was ist Ihre Ansicht?

SB: Bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre spielte die Frage nach der Religionszugehörigkeit im Zuwanderungs- und Integrationsdiskurs keine herausragende Rolle. Der Grund dafür lag u.a. darin, dass unter Integration mehr oder weniger ein allmählicher Prozess der Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft verstanden wurde. In solch einem Deutungshorizont war für die Religion von Zuwanderern – unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit – automatisch derselbe Stellenwert vorgesehen, wie auch für das Christentum als traditionelle Religion der Aufnahmegesellschaft: Religion musste Privatsache bleiben. Als dann seitens der Zuwanderer immer lauter das Recht auf öffentlich sichtbare Differenz – das heisst auch religiöse Differenz – geltend gemacht wurde, geriet Religion rasch in den Verdacht, integrationshemmend zu wirken. Sie würde nämlich normative Zwänge ausüben, die mit dem Wertekodex moderner rechtlich-säkularen Demokratien nicht mehr kompatibel seien. In der Zeit nach dem 11. September 01 hat dieser Verdacht gegenüber Religion – insbesondere gegenüber Islam – einen Explizitheitsschub erfahren.Nun, generell gesehen, stellt Religion ein ambivalentes Phänomen dar. Religion wird von Menschen gelebt und gestaltet. Von Mensch zu Mensch oder von Gruppe zu Gruppe kann es deswegen unterschiedliche Formen religiöser Identifizierung geben. Unter bestimmten Umständen, z.B. wenn Migrantinnen und Migranten seitens einer Mehrheitsgesellschaft das Gefühl vermittelt wird, aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nicht dazu zu gehören, kann Religion tatsächlich zur Abschottung eines Individuums oder einer Gruppen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft führen. Umgekehrt kann dieses Gefühl genauso konstruktive Interaktionsprozesse mit der Mehrheitsgesellschaft auslösen und so die Kommunikation mit den relevanten Faktoren der Gesellschaft fördern.Im Rahmen meiner Forschungen innerhalb muslimischer Communities in der Schweiz konnte ich gerade Letzteres beobachten. Ein Generalverdacht gegenüber Muslimen hat nicht zur Abschottung von Muslimen geführt. Mit zahlreichen Dialog- und Begegnungsinitiativen – sei es auf der Ebene der Dachvereine oder auf der Ebene ethno-spezifischer Moscheevereine – suchen Muslime in der Schweiz einen konstruktiven Dialog mit der Schweizerischen Gesellschaft, um auf diese Weise zu zeigen, dass man auch als Muslim oder Muslima ein loyaler Bürger sein kann.

DG: Laut der Medien gibt es einen allgemeinen Trend von Leuten, die auf der Suche nach ihrer religiösen Identität sind. Ist das auch ein Trend, den Sie feststellen konnten? Was hat dieses plötzliche Interesse in den letzten Jahrzehnten verursacht?

SB: Mit Blick auf die Entwicklung des Phänomens Religion lassen sich innerhalb westlicher Gesellschaften zwei gegenläufige Tendenzen: während sich einerseits viele gesellschaftliche Teilbereiche seit einigen Jahrzehnten immer mehr von religiösen (im Falle von Europa christlichen) Bezügen emanzipieren, wird die religiöse Szene andererseits immer pluraler und komplexer. Mit Blick auf ein quantitativ zunehmendes und qualitativ immer selbstbewussteres Auftreten von Religionsgemeinschaften (insbesondere von Muslimen) in der Öffentlichkeit ist sogar von einer Wiederkehr, bzw. Renaissance des Religiösen die Rede. Von einem wieder erstarkten Interesse am Religiösen – sei es auf individueller oder gesellschafts-politischer Ebene – kann man tatsächlich sprechen. Diese Entwicklung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Interesse an Religiösem sich genauso vielfältig gestaltet, wie auch die religiöse Landschaft vielfältig geworden ist. Generell lässt sich sicherlich die Suche nach dem Sinn und das Bedürfnis nach klarer Orientierung und und nach Zugehörigkeit in einer immer komplexeren Gesellschaft als ein wichtiger Grund für eine erneute Zuwendung zur Religion nennen.

DG: Wie kann die Beteuerung der eigenen religiösen Identität den Integrationsprozess in der breiteren Gesellschaft verstärken?

SB: In zahlreichen sozial- und religionswissenschaftlichen Feldstudien der letzten Jahre konnte elaboriert werden, dass Religion tatsächlich eine wichtige integrationsfördernde Rolle spielen kann. Das Vorhanden von Sprachkenntnissen, von Ausbildung und Beruf sind zwar unumgänglich für einen gelingenden Integrationsprozess. Allein für sich genommen sind sie aber noch kein Garant einer gelungenen Integration. Denn gerade in einer plural gestalteten Gesellschaft kann das Bewusstsein, zu wissen, wer man ist und wohin man gehört, im Integrationsprozess eine zentrale Rolle spielen. Neben den ethnischen, nationalen und kulturellen sind es auch religiöse Identifizierungen, welche einen wesentlichen Bestandteil dieses Identitätsbewusstseins einer Person ausmachen können. Deswegen ist die Einsicht wichtig, dass für Migranten und deren Nachkommen die Intergration zunehmend auch das Recht bedeutet, anders zu sein – auch in religiöser Hinsicht. Schon vor einigen Jahren hat der Staatsrechtler Walter Kälin zurecht darauf hingewiesen, dass jemand der Kopftuch trägt oder an einem anderen Tag betet als dem Sonntag nicht nur in Schule und im Berufsleben erfolgreich sein kann, sondern sich diesen Herausforderungen möglicherweise noch besser zu stellen vermag, wenn er weiss wohin er gehört, als wer Identität und Werte bezogen entwurzelt ist.

DG: Diese Suche nach der religiösen Identität ist eine individuelle Erfahrung, und wie viele individuellen Erfahrungen, kann diese zu verschiedenen Richtungen führen. Könnte dies, in einigen Fällen, zu einem anti-sozialen, extremen und isolationistischem Verhalten führen? Was könnten diese Fallen sein? Sollte man Individuen in ihrer Suche leiten oder unterstützen? Was können die etablierten religiösen Gemeinschaften tun, in diesem Prozess zu helfen?

SB: Wenn eine Person oder auch Gruppe permanent sozialer Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft begegnet, dann kann diese Erfahrung unter Umständen dazu führen, dass man gerade in der Religion als normativem Zeichen- und Symbolsystem Zuflucht sucht und zunehmend auf Distanz zu der Gesellschaft geht, in der man lebt – bis hin zu der völligen Abschottung. Etablierte Religionsgemeinschaften, vor allem ihre Autoritäten, können hier eine wichtige Berater- und Vermittlerrolle spielen. Wichtig dabei ist, dass solche Autoritäten selbst dazu fähig sind, zeitgemässe Interpretationen von religiösen Inhalten zu leisten und auf die Notwendigkeit von solchen Interpretationen immer wieder hinzuweisen. Es ist erfreulich zu beobachten, dass beispielsweise bei Verständigungs- und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen muslimischen Individuen und den Behörden – allen voran Schulen – gerade Imame immer öfter wichtige religiös-kulturelle Vermittlerdienste leisten.

DG: Wie sehen Sie die Entwicklung und die Situation der muslimischen Gemeinschaft in Luzern, in Bezug auf ihre religiöse Identität und ihrer Integration in der breiten schweizerischen Gesellschaft?

SB: Im Rahmen meiner bisherigen Feldforschungen innerhalb muslimischer Migrantenmillieus in der Schweiz konnte ich hinsichtlich religiöser Identifizierung feststellen, dass es unter muslimisch geprägten Migranten und deren Nachkommen in der Schweiz einen äusserst individuellen und pragmatischen Umgang mit religiösen Normen und Vorschriften des Islam gibt. Das Gefühl und auch der Stolz Muslim zu sein sind vor allem bei vielen jungen Leuten, die ich gesprochen habe, stark ausgeprägt. Das muslimische Gemeindeleben im Kanton Luzern ist in vielerlei Hinsicht interessant. Einerseits kann man hier auf einem begrenzten Raum die ganze kulturelle und hekunftsspezifische Vielfalt und Reichtum der islamischen Religion hautnah erleben und natürlich auch erforschen. Andererseits ist auch eine bemerkenswerte über Sprach- und Kulturgrenzen hinausgehende Solidarität und Zusammenarbeit unter Luzerner Muslimen zu beobachten. Dies manifestiert sich nach Aussen hin in zahlreichen Dialog-, Begegnungs- und Diskurssionsinitiativen, die schon seit einigen Jahren auf der Dachvereinsebene von engagierten muslimischen Frauen und Männern unternommen werden und immer neue Kommunikationsräume mit den wichtigen Faktoren der Mehrheitsgesellschaft – von den Behörden, politischen Parteien über Kirchen bis hin zu den wissenschaftlichen Einrichtungen – schaffen. Mit Blick auf die mögliche zukünftige Entwicklung muslimischen Lebens – sowohl im Kanton Luzern, wie auch schweizweit – ist unter den jungen Muslimen schon jetzt die Tendenz erkennbar, den sozio-kulturellen und gesellschafts-politischen Kontext der Schweiz für die eigene religiöse Identität als zunehmend mitbestimmend zu erkennen und zu akzeptieren. Die Art und Weise wie sich das muslimische Leben im Kanton Luzern entwickelt kann meines Erachtens in vielerlei Hinsicht als paradigmatisch für einen sich viel versprechend entwickelnden Eingliederungsprozess des Islam in die Schweizer Gesellschaft als zukünftig wichtiger und relevanter öffentlicher Faktor angesehen werden.

YuSa

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